Die 9 Eskalationsstufen (Teil 2)

18 Nov 2019 22:07 Von Philipp Karch

Im letzten Blog ging es um die neun Eskalationsstufen. Wir stellten u. a. fest, dass ...

  • Konflikte die Tendenz haben zu eskalieren (von 1 nach 9),
  • nicht alle Konflikte alle Phasen durchlaufen, und nicht alle Phasen immer voneinander trennbar sind,
  • Elemente der früheren Phasen auch in späteren Phasen auftauchen können und dass sich die beteiligte Parteien auf unterschiedlichen Ebenen befinden können und
  • je weiter der Konflikt eskaliert, desto schwieriger es ist, ihn zu lösen (Stufen 1 bis 3: win-win; Stufen 4 bis 6: win-lose; Stufen 7 bis 9: lose-lose)

Was bringt dir das Wissen um die 9 Stufen nun für die tägliche Praxis? Ich habe vier Anregungen für dich, wie du an deinen Wahrnehmungen, deinem Denken und deinem Verhalten arbeiten kannst.

Anregung 1: Nimm die Lupe, nicht das Fernglas

Schule deinen Blick für Konfliktpotenziale. Egal, welche Rolle du gerade innehast, ob Moderator, Beobachter, Entwickler oder Umsetzer, sei immer auch Konfliktvorbeuger. Stell deine Antennen auf Empfang für alle erdenklichen Konfliktmerkmale, die du hier noch einmal nachlesen kannst.

Behalte jederzeit die sechs Merkmale im Auge: die drei inneren (Worte, Stimme, Körpersprache), genauso wie die drei äußeren (Körper, Geist und Seele). Denn nur wenn du dich auf alle sechs Ebenen geeicht hast, kannst du die sich anbahnenden Konflikte in frühen Phasen wahrnehmen und ihnen entgegensteuern.

Benutze also Lupe, statt Fernglas, und mach es dir zur Aufgabe, schon die kleinsten Anzeichen von Unstimmigkeiten, Interessenskollisionen oder Antipathien zu erfassen.

Anregung 2: Erkenne Lästern als Wendepunkt und Schwelle zum Destruktiven

Die ersten drei Stufen der Konflikteskalation, also Verhärtung, Debatte und Polemik sowie Taten statt Worte, sind noch nicht weiter kritisch und meist unvermeidbar. Denn da, wo Menschen zusammentreffen, kommt es früher oder später zwangsläufig zu Differenzen, und wo Unterschiede auftreten, gibt es Konflikte. Ob »Verhärtung« als Stufe 1, »Debatten und Polemik« als Stufe 2 oder »Taten statt Worte« als Stufe 3 – die Erscheinungsformen ähneln sich und sind nicht weiter tragisch. Gruppen können sich aus diesen Phasen in der Regel selbst befreien und wieder zu einem offenen, wertschätzenden und konstruktiven Miteinander zurückkehren.

Anders verhält es sich, wenn ein Konflikt bereits Stufe 4 erreicht hat, die Suche nach Allianzen und Koalitionen, wie im Fallbeispiel oben. Ab dieser Phase beginnt häufig eine gewisse Sog-Wirkung, hin zu den sich anschließenden höheren Stufen. Insofern kommt dieser vierten Phasen meines Erachtens eine besondere Bedeutung zu. Betrachte sie wie eine gefährliche Schwelle. Wer sie überschreitet, wird nur schwer zu den vergleichsweise harmlosen Stufen eins bis drei zurückkehren können. Wenn überhaupt.

Viel wahrscheinlicher ist eine kontinuierliche Steigerung des Konflikts. Viele Menschen neigen zu einem Automatismus, einen Konflikt auf die Spitze zu treiben, wenn erst einmal die Stufen vier bis sechs erreicht sind (Stufe 4 »Suche nach Allianzen und Koalitionen«, Stufe 5 »Bloßstellungen«, Stufe 6 »Drohungen«).

Wann immer du also hinter ihrem Rücken schlecht über andere redest, sei dir bewusst, dass du ein riskantes Feld betrittst. Und umgekehrt: Wann immer jemand dein Ohr für sein Lästern nutzen möchte, überlege gut, ob du es ihm anbietest. Denn zum Lästern gehören immer mindestens zwei Personen. Also: Stell dir vor, es gibt ein Läster-Angebot, und keiner nimmt es an. Du hast die Wahl.

Anregung 3: Verfolge gnadenlos den Grundsatz »Störungen haben Vorrang«

Dieser Grundsatz entstammt der Themenzentrierten Interaktion nach Ruth Cohn und anderen. Stell dir vor, du sitzt mit deinen Kollegen in einem Workshop und spürst aufkommende Verstimmungen. Jetzt liegt es an dir: Hältst du die Klappe oder bringst du den Mut auf, deine Beobachtungen und Empfindungen offen anzusprechen? Eine schwierige Entscheidung. Wenn du dich für den ehrenhaften zweiten Weg entscheidest, wirst du dir nicht nur Freunde machen. Im Gegenteil. Denn wer aus der Gruppe wird es wohl begrüßen, die Sachebene zu verlassen, um auf der Beziehungsebene schwer greifbare Verstimmungen zu klären? Es passt nicht oft in unsere Leistungsgesellschaft, die Leitbilder Effektivität und Effizienz einfach über Bord zu schmeißen, nur weil jemand sich gerade nicht so gut fühlt. Das Leben ist schließlich kein Ponyhof.

In den meisten Fällen wirst du mit deinem Ich-möchte-mal-was-zur-Gruppenatmosphäre-sagen alleine sein. Und weil du wahrscheinlich keine Lust auf Ablehnung hast, wirst du vielleicht klein beigeben und eine innere Stimme in dir wird deine Sorge vor Eskalation unterdrücken. Verständlich. Einerseits. 

Andererseits: Wie steht’s mit deiner Verantwortung? Ich möchte dich darin bestärken, die erwachsene Aufrichtigkeit zu wählen und anzusprechen, was du beobachtest hast. Vielleicht danken es dir manche gleich, andere vielleicht später – und womöglich auch niemand jemals. Was dir jedoch keiner nehmen kann, ist deine Integrität, in einem wichtigen Moment Verantwortung für die Gruppe übernommen zu haben und etwas Unpopuläres, aber Erfolgskritisches eingebracht zu haben.

Es geht in diesen heiklen Momenten nur vordergründig um dich und deine Anerkennung und Wertschätzung. Viel entscheidender ist aus meiner Sicht: Beuge höhere Eskalationsstufen vor und damit zugleich dauerhaften Zerwürfnissen in der Gruppe. Denn sind das bleibende Wohlergehen und – vor allem – die Arbeitsfähigkeit der Gruppe nicht wichtiger als der vorübergehende Verzicht auf Anerkennung? Wenn du dein Ego hintanstellen und das größere Ganze sehen kannst, dann gib Gas und überwinde dich. Der Stolz über deinen Mut und deine Unabhängigkeit wartet als Belohnung.

Früher oder später. Und noch etwas wartet auf dich: Dein Selbstbewusstsein wird gestärkt, wenn du beobachten kannst, dass du auch so subtile und komplexe Prozesse, wie Gruppenprozesse und Teamentwicklungen, beeinflussen kannst. Du kannst also abwägen, was für dich besser ist: die kurzfristige Befriedigung des Bedürfnisses nach Anerkennung oder die langfristige Befriedigung des Bedürfnisses nach Leistung und Wirksamkeit des eigenen Handelns.

Anregung 4: Lass das Kind nicht in den Brunnen fallen

Neben dem Ob gibt es auch die Frage nach dem Wann, dem passenden Moment. Denn Störungen irgendwann mal anzusprechen, reicht leider nicht. Sprich sie so früh wie möglich an. Getreu dem Motto: »Wehret den Anfängen«. Denn je später du ein Stopp-Zeichen sendest, desto schwieriger wird die Klärung. Und manchmal wird es sogar zu spät sein. Denn nicht alles, was zu Bruch gegangen ist, kann wieder repariert werden. 

Es ist wie beim Braten im Ofen: Wenn du das erste leise Zischen und den ersten zarten Qualm ignorierst, kann es schnell vorbei sein mit dem üppigen Abendessen. Denn was einmal verbrannt ist, kann nicht mehr entbrannt werden. Ein Zu-früh kann es nicht geben, ein Zu-spät schon.

Fazit & Ausblick

Wir haben gesehen, dass selbst die kleinsten Verstimmungen das Potenzial zu größeren Zerwürfnissen haben. Wenn du akzeptierst, dass jedem noch so kleinen Konflikt eine Eskalationsdynamik innewohnt, wirst du jede noch so kleine Störung ernst nehmen. Beschwichtigende Äußerungen wie »nicht so schlimm« oder »der wird sich schon wieder einkriegen« gehören dann deiner Vergangenheit an. 

Du hast die neun Eskalationsstufen nach Glasl kennengelernt, die dir noch einmal verdeutlicht haben, wie wichtig es ist, in Auseinandersetzungen und Konflikten zunächst die eigenen inneren Prozesse zu deregulieren. Wenn wir Emotionen und Stimmungen freien Lauf lassen, dann blockieren wir nicht nur unser Denken, wir laufen auch in Gefahr, dass kleine Probleme aus dem Ruder laufen und sich zu großen, existenziellen Problemen auswachsen.

Du hast als Hilfsmittel zur eigenen Verhaltenssteuerung zunächst den KANAL kennengelernt, der dir hilft, dich schlagartig zu beruhigen und ein Minimum an Gelassenheit zurückzuerlangen. Wir haben uns dann die sechs Wahrnehmungsebenen angeschaut, damit du ein gutes Auge und ein wachsames Ohr für sich anbahnende Konflikte bekommst. Und mit dem Verständnis der innewohnenden Konfliktdynamiken bist du nun sensibilisiert für die Notwendigkeit, auftauchende Verstimmungen so früh wie möglich wahrzunehmen und ihnen entgegenzusteuern.

Als Ausblick: Im Anti-Ärger-Modell folgt jetzt Phase 2, das Analysieren. Um genau zu sein: Während du in Phase 1 KANALisierst, kannst du gedanklich schon in Phase 2 wechseln und die Hintergründe der Konfliktentstehung begreifen. Wir werden im nächsten Blog-Beitrag sehen, dass jeder Konflikt immer eine oder mehrere von acht möglichen Konfliktursachen hat.

Bis dahin wünsche ich dir ärgerfreie Tage ...

PS: Hier geht's übrigens zum Newsletter und hier zum Fachbuch. Falls du eine Frage oder Anregungen hast, ruf einfach an (0175 / 59 555 95) oder schreib mir eine Email. Ich freue mich, von dir zu hören!