Die sechs Konfliktmerkmale (Teil 2)

29 Sep 2019 13:09 Von Philipp Karch

Im letzten Blogbeitrag ging es um die sechs Konfliktmerkmale. Wir hatten gesehen, dass es drei interne Wahrnehmungsebenen gibt (Körper, Geist und Seele) und drei externe (Worte, Stimme und Körpersprache). Und wir hatten uns auch bewusst gemacht, dass es vorteilhaft ist, ALLE sechs Merkmale konstant im Blick zu haben, um eintretende Verstimmungen frühzeitig festzustellen, ob bei sich selbst oder beim Gegenüber. 

Und wozu das Ganze? Weil je früher du sich anbahnende Konflikte wahrnimmst, du ihnen effektiver entgegentreten kannst. Stell Dir vor: ist das Kind erst einmal in den Brunnen gefallen, sind deine Handlungsräume deutlich eingeschränkter, als wenn es noch überm Brunnenrand steht und reinguckt …

Wir halten also fest: Wer die sechs Wahrnehmungsebenen immer und überall mitbekommt, ist klar im Vorteil. Doch was bedeutet das Wissen um die Wichtigkeit dieser Merkmale konkret für dein Handeln? In diesem Blogbeitrag geht's genau darum: Was kannst du konkret tun, um die sechs Merkmale gut wahrzunehmen. Und was könnte dir manchmal im Weg stehen.

Der Drei-Drittel-Ansatz

Bislang galt deine Aufmerksamkeit in Gesprächen mit anderen möglicherweise ganz den Worten beziehungsweise der Sache. Mit dem Wissen um die sechs Wahrnehmungsebenen kannst du künftig deine Aufmerksamkeit zum Beispiel dreiteilen:

  • Das erste Drittel deiner Aufmerksamkeit bleibt bei deinen Gedanken und Worten.
  • Das zweite Drittel schenkst du den inneren Wahrnehmungsebenen Körper (was spürst du?) und Seele (was fühlst du?)
  • Und das dritte Drittel erhalten die äußeren Wahrnehmungsebenen Stimme und Körpersprache.

Wozu? Weil du auf diese Weise aufkommende Konflikte besser wahrnehmen und unnötige Missverständnisse vermeiden kannst. Dieser Drei-Drittel-Ansatz ist natürlich nicht mathematisch messbar, sondern nur als Orientierung gedacht. Mit dieser neuen Haltung wirst du sensibel für aufkommende Konfliktpotenziale. Dein neues Motto könnte sein: »Vom Hardcore-Ich-Sender zur ausgewogenen Sende- und Empfangsstation«. Vielleicht musst du dein Sprechtempo etwas drosseln, doch dafür beugst du vermeidbaren Konflikten vor.

Vorrang von Körper und Stimme

Glaubst du, wie viele andere Menschen auch, dass Worte das Wichtigste in der Kommunikation sind? Weit gefehlt. Wissenschaftlich wurde mehrfach bewiesen, dass Stimme und Körpersprache in vielen Situationen wesentlich mehr zur Gesamtbotschaft beitragen als der reine Wortlaut. Die entsprechenden Zahlenwerte sind gravierend. 

Mehrabian fand in einer Studie heraus: Worte transportieren manchmal nur 7 Prozent, die Stimme etwa 38 Prozent, während die Körpersprache bis zu 55 Prozent des Eindrucks ausmachen kann, den andere von uns bekommen. Vor allem wenn Menschen über ihre Einstellungen oder Gefühle sprechen. Hieraus lässt ich ableiten: Wer eine gute Wahrnehmung für Stimme und Körpersprache hat, hat gute Chancen, sich anbahnende Konflikte frühzeitig wahrzunehmen.

In drei Schritten zu deiner neuen Wahrnehmungskompetenz

Wie kannst du diese wichtige Fähigkeit zur Konfliktprävention systematisch aufbauen? Ich schlage drei Schritte vor. Schritt 1 bezieht sich auf deine Rolle als Empfänger, Schritte 2 und 3 auf deine Rolle als Sender:

  • Schritt 1: Wenn dein Gegenüber spricht, achte nicht nur auf die verbalen, sondern auch auf die paraverbalen und nonverbalen Botschaften

Warum? Weil du dann ein deutlich umfangreicheres Bild von der Gesamtbotschaft deines Gegenübers erhältst. Du glaubst nicht mehr so schnell nur den Worten, sondern schaust beziehungsweise hörst auch dahinter. Damit prüfst du, ob deine anfängliche Deutung tatsächlich stimmt.

  • Schritt 2: Wenn du sprichst, achte ebenso nicht nur auf deine Worte, sondern auch auf deine Stimme und deine Körpersprache

Warum? Weil dir deine paraverbalen und nonverbalen Signale wertvolle Informationen über dich selbst geben können, die dir vielleicht noch gar nicht bewusst sind. Zum Beispiel könnte deine etwas erhöhte Stimme darauf hindeuten, dass du nervös bist, woraufhin du unmittelbar KANALisieren könntest – siehe auch Blogbeitrag Abkühlen im KANAL.

  • Schritt 3: Wenn du sprichst, achte du nicht nur auf das externe VPN (verbal, paraverbal und nonverbal), sondern auch auf das interne KGS (Körper, Geist und Seele)

Warum? Weil du dich dann noch selbstreflexiver im Prozess wahrnimmst und schneller gegensteuern kannst, bevor sich Dinge unschön verselbstständigen. Auch hier kann dir der KANAL wieder helfen. 

Schön und gut. Es leuchtet dir ein, dass die sechs Wahrnehmungsebenen wichtig sind für die Deeskalation und du bist bereit, ihnen mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Was kann dennoch bei der Umsetzung schiefgehen? Ich sehe vier Risiken:

Risiko 1: Verführung durch die Sachebene – keine Lust auf Entschleunigung

Dir ist zwar klar, dass es im Sinne der Konfliktprävention sinnvoll wäre, auf die Wahrnehmungsebenen zu achten, aber du verspürst keine Lust dazu. Warum? Weil es dich bremsen würde. Wenn du die Wahl hast zwischen »nur Reden« auf der einen Seite und »Reden und Auf-sechs-Wahrnehmungsebenen-achten«, dann ist klar: Das erste geht schön schnell; das zweite kann ewig dauern. Zugunsten der Effizienz also für die Geschwindigkeit und gegen die sechs Wahrnehmungsebenen.

Was jedoch zunächst als Vorteil erscheint, kann sich später leicht als Trugschluss entpuppen: Zwar hast du schnell mitgeteilt, was Sache ist, dafür aber auch den einen oder anderen Konflikt ausgelöst. Oder nicht mitbekommen, dass bereits einer existiert. Und das ist sehr riskant, wie wir im nächsten Blogbeitrag zu den Eskalationsstufen noch sehen werden. Du hast also die Wahl: entweder schnell und riskant Mitteilungen loswerden oder entschleunigt und bewusst durch schwierige Gefilde navigieren. Du wirst selbst entscheiden, was letztlich günstiger ist.

Risiko 2: Überforderung

Du bist gewillt, auf alle sechs Wahrnehmungsebenen zu achten, doch du scheiterst. Der Wille war da, doch dein Kommunikationsapparat (noch) zu schwach. Und weil es beim ersten Mal nicht geklappt hat, denkst du: »Das war’s. Ohne mich. Ist mir viel zu kompliziert.« Du gibst auf, weil du zu schnell Erfolge erwartet hast.

Sei gnädig mit dir. Und hartnäckig. Gelassen-zuversichtlich-hartnäckig. Es braucht nur Übung. Tägliche Übung. Immer wieder innehalten und hinschauen. Weg vom bloßen Senden und der Wortfixierung, hin zu einem ausgewogenen Miteinander von Senden und Empfangen sowie ein Blick auf externe und interne Signale. Alles machbar, wenn der Wille da ist.

Risiko 3: Verwirrung bei widersprüchlichen Signalen

Weder lässt du dich von der Sachebene verführen noch erlebst du eine Überforderung. Du bist einfach nur verwirrt. Das, was du hörst, passt einfach nicht zu dem, was du siehst: Die Worte passen nicht zur Stimme, die Stimme passt nicht zur Körpersprache, und die Körpersprache passt nicht zu den Worten. Stichwort „Inkongruenz“. Wie sollst du da verstehen, was beim anderen los ist? Statt dranzubleiben, gibst du auf. 

Wenn du solch widersprüchliche Botschaften wahrnimmst, hake höflich-offensiv nach. Sprich an, was du gehört und gesehen hast. Bring dein Gegenüber dazu, klarer und eindeutiger zu kommunizieren. Lass nicht locker, bis verbale, nonverbale und paraverbale Ebenen zueinander passen. Du gehst dem anderen damit vielleicht auf den Geist. Doch vielleicht ist das genau der Weg, den du zu gehen hast, um am Ende weniger rätseln zu müssen. Deine Freundschaft beziehungsweise Bekanntschaft wird das aushalten.

Risiko 4: Fehldeutungen

Du hast alles richtiggemacht – kein Widerwille, keine Überforderung, keine Verwirrung. Doch du hast etwas missverständlich interpretiert. Dein Gegenüber hat die Arme verschränkt, und du denkst: »Aha, der geht gerade in den Widerstand!« Dabei hat er es sich nur bequem gemacht, wie du später rausfindest. Hättest du nichts Falsches hineininterpretiert, hätte die Unterhaltung einen guten Verlauf genommen. So aber hast du sie unnötig verkompliziert. Und du entscheidest dich, künftig noch weniger auf die Wahrnehmungsebenen zu achten, wobei du bei Risiko-Nummer 1 angekommen wärst.

Trotz all dieser Risiken, bleibt festzuhalten: Der Blick auf die Wahrnehmungsebenen lohnt sich, denn er liefert wertvolle Informationen über das, was unter der sichtbaren Oberfläche verborgen sein könnte. Bertolt Brecht hat mal gesagt: »Wer kämpft, kann verlieren. Wer nicht kämpft, hat schon verloren.« Übertragen auf die sechs Wahrnehmungsebenen können wir formulieren: Wer versucht hinzuschauen, kann verlieren, im Sinne von »sich irren«. Wer bewusst nicht hinschaut, hat schon verloren, im Sinne von »vorsätzliche Ignoranz« und damit Einwilligung in ein erhöhtes Konfliktrisiko.

Fazit & Ausblick

Konflikte lassen sich auf bis zu sechs Ebenen wahrnehmen. Drei Ebenen sind intern beobachtbar (Körper Geist und Seele – KGS), die anderen drei extern (verbal, paraverbal, nonverbal – VPN). Die sechs Wahrnehmungsebenen sind keine Zauberei. In deinen ersten Lebensjahren hast du sie alle gelernt, es gilt jetzt nur, sie wieder zu entdecken. Es geht primär nicht um deine Fähigkeit. Es geht primär um deinen Willen, sich dieser Aufgabe zu stellen. Weil die Arbeit sich lohnt, wirst du sie wahrscheinlich angehen.

Du würdest dir das Ganze noch einmal anhören? Dann geht's hier zum Hörbuch:

00:00
  • 04_Kap4.2_6Konfliktmerkmale
    00:00

Wie geht's jetzt weiter hier im Blog? Wenn wir über Konfliktwahrnehmung sprechen, sollten wir auch über Konfliktdynamiken sprechen, denn auch sie haben viel mit Wahrnehmung zu tun. Wie wir im nächsten Blogbeitrag sehen werden, können Konflikte je nach Ausprägungsform bestimmten Phasen beziehungsweise Eskalationsstufen zugeordnet werden. Und wie wir auch sehen werden: Je fortgeschrittener ein Konflikt, desto schwieriger ist es, ihn zu bewältigen.

PS: Hier geht's übrigens zum Newsletter und hier zum Fachbuch. Falls du eine Frage oder Anregungen hast, ruf einfach an (0175 / 59 555 95) oder schreib mir eine Email. Ich freue mich, von dir zu hören.